Zentralbanker – wahrlich ein harter Job

Mittwoch, 1. November 2017 Autor Christophe BernardLesezeit: 4 Minuten

Über ihr Monopol bei der Festsetzung der Zinssätze können Zentralbanken dazu beitragen, das Vermögen der Menschen zu mehren oder eine wirtschaftliche Depression herbeizuführen. Im vergangenen Jahrzehnt waren sie aus Angst vor einem Missmanagement der letzten Finanzkrise in Geberlaune. Die Weltwirtschaft und die Finanzmärkte haben die Geschenke von Ben Bernanke und seinen Kolleginnen und Kollegen nur allzu gern angenommen. Nun nähern sich die Tage des «Gratis-Lunch» dem Ende, doch bisher hat nur die US-Notenbank den Leitzins heraufgesetzt. Wir erwarten, dass die Europäische Zentralbank und die Bank of Japan ihrem Beispiel folgen werden, allerdings im Schneckentempo.


 

Trotz der Entstehung des modernen Zentralbankwesens nach dem Ersten Weltkrieg vor 100 Jahren ist es in den Industrieländern immer zu extremen Auf- und Abschwungphasen gekommen. Daher haben Historiker manchmal ein allzu hartes Urteil über Zentralbanken gefällt. Rückblickend wurden die getroffenen oder auch ausgebliebenen Entscheidungen der Zentralbanken oft als «geldpolitischer Fehler» bezeichnet.

 

 

Der Fehler bei der Grossen Depression

Die wahrscheinlich offensichtlichste geldpolitische Fehlentscheidung war die unangemessene Reaktion der US-Notenbank Fed während der Grossen Depression in den 1930ern. Als nach dem «Schwarzen Montag» im Oktober 1929 Panik einsetzte, agierte die US-Notenbank nicht als Kreditgeber der letzten Instanz, sondern sah dem Zusammenbruch zahlreicher Banken tatenlos zu. Indem sie mehrere Wellen anschliessender Bankenanstürme nicht verhinderte, trug sie zu einer ausgeprägten wirtschaftlichen Depression bei, in der das reale Bruttoinlandprodukt (BIP) in den USA um 26 Prozent nachgab (von 1929 bis 1933), die Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent nach oben schnellte (1933) und das allgemeine Preisniveau, gemessen vom Höchststand bis zum Tiefpunkt, um 26 Prozent sank (von Januar 1930 bis März 1933).

 

 

 

Lektion gelernt, Lehman-Debakel abgefedert

Diese schockierenden Ereignisse waren Zentralbanken und Politikern eine Lehre. Die Feuerprobe kam 2008, als die Pleite der US-Investmentbank Lehman Brothers das globale Finanzsystem mit in den Abgrund zu reissen drohte. Damals unterstützte die US-Regierung mit dem TARP-Programm1 entschlossen die Banken, und die US-Notenbank stellte über massive Käufe von Anleihen («quantitative Lockerung») Liquidität in praktisch unbegrenztem Umfang zur Verfügung. Die entschiedene Reaktion der US-Notenbank, der sich auch andere grosse Zentralbanken anschlossen, verhinderte höchstwahrscheinlich ein Abgleiten in eine Depression. Trotzdem hatte die jüngste Finanzkrise schwere Auswirkungen. Beispielsweise gab das US-BIP um 4.2 Prozent nach (vom Höchststand im vierten Quartal 2007 zum Tiefpunkt im zweiten Quartal 2009). Die Arbeitslosigkeit erreichte 10 Prozent (im Oktober 2009), und die Teuerungsrate brach von 5.6 Prozent im Juli 2008 auf -2.1 Prozent im Juli 2009 ein (siehe Grafik 1).

Grafik 1: US-Wirtschaft litt während der Depression viel stärker als nach jüngster Finanzkrise Indexiert, 1929=100 bzw. 2007=100
Quelle: Bureau of Economic Analysis, Thomson Reuters Datastream, Vontobel

 

 

 

Wir haben keinen Zweifel daran, dass die Zentralbanken weltweit ausgezeichnete Noten für ihr rasches und entschlossenes Handeln verdienen. Heute befindet sich die Weltwirtschaft auf Wachstumskurs – und zwar in allen Regionen gleichzeitig –, die Arbeitslosigkeit ist deutlich zurückgegangen, und die Banken zeigen sich viel robuster. Natürlich hatte dies seinen Preis. Die Kehrseite der aussergewöhnlichen Anstrengungen der Zentralbanken ist steigende Verschuldung in den meisten Ländern, die De-facto-Enteignung der Sparer durch Null- oder sogar Negativzinsen und die Befürchtung, dass sich die Preise von Vermögenswerten wieder unverhältnismässig stark aufblähen.

Wie lässt sich messen, ob die Geldpolitik in einer Situation angemessen ist oder nicht? Die Kernkompetenz der Zentralbanken, die Setzung der Leitzinsen, ist Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Ein leicht verständliches Ergebnis ist die sogenannte Taylor-Regel. Diese nach dem US-Ökonomen John Taylor (siehe auch Spezialthema ab Seite 8) benannte Richtschnur versucht zu ermitteln, welcher Leitzins ein potenzielles BIP-Wachstum erlaubt, ohne einen beschleunigten Inflationsanstieg auszulösen. Die Regel legt nun den Schluss nahe, dass die US-Notenbank – trotz einer Reihe von Zinserhöhungen – eine nach wie vor zu lockere Geldpolitik verfolgt (siehe Grafik 2). Dies gilt auch für die Europäische Zentralbank (EZB).

Grafik 2: US-Geldpolitik gemäss der Taylor-Regel oft entweder zu locker oder zu straff
In Prozent
Quelle: U.S. Federal Reserve, Bureau of Economic Analysis, Congressional Budget Office, Bureau of Labor Statistics, Thomson Reuters Datastream, Vontobel

 

 

 

Ein Drahtseilakt

Zentralbanken befinden sich derzeit in einer Zwickmühle. Zwar ist es nur natürlich, dass sie lieber auf Nummer sicher gehen wollen, aber das Fluten der Wirtschaft und der Finanzmärkte mit Liquidität kann schwere Nebenwirkungen haben. Beispielsweise können Preise von Vermögenswerten übermässig in die Höhe schiessen, wenn der Geldhahn nicht zum richtigen Zeit wieder zugedreht wird. Ein Platzen künftiger Blasen würde wiederum zu finanzieller Instabilität führen. Andererseits kann eine zu frühe Leitzinserhöhung die dringend benötigte Konjunkturerholung im Keim ersticken. Ein gutes Beispiel für die Herausforderungen der Zentralbanken ist die sogenannte Dotcom-Blase, die etwa zur Jahrtausendwende platzte. Nach dem darauf folgenden Einbruch an den Aktienmärkten senkte die US-Notenbank unter ihrem Vorsitzenden Alan Greenspan 2001-2002 aggressiv die Zinsen und vermied so eine schlimmere Rezession. Doch die US-Geldpolitik blieb zu lange zu expansiv und fachte damit eine Immobilienblase an, die sich als die Grundursache für die grosse Finanzkrise von 2008-2009 erwies.

Unserer Ansicht nach ist sich die derzeitige Fed-Chefin Janet Yellen dieser Stolpersteine sehr wohl bewusst. Sie hat bereits auf überzogene Bewertungen in Teilen der Aktien- und Anleihenmärkte hingewiesen. Allerdings ist der Druck, die Zinszügel nicht zu früh anzuziehen, ebenso stark. Zentralbanken haben wirklich eine schwierige Aufgabe …

Zentralbanken-«Füllhorn» könnte Ende 2018 versiegen

Das derzeitige Umfeld ist nach wie vor von einem durchaus starken Wachstum der Weltwirtschaft, kräftigen Unternehmensgewinnen und einer unverändert lockeren Geldpolitik gekennzeichnet. Wir bleiben in risikobehafteten Anlagen geringfügig übergewichtet, denn die erhöhten Bewertungen rechtfertigen unseres Erachtens keine optimistischere Beurteilung. Abgesehen von den bekannten geopolitischen Risiken stellt eine Straffung der Geldpolitik über die Konsenserwartungen hinaus die grösste ernstzunehmende Gefahr für die aktuelle Hausse dar. Daher werden wir die eingehenden Daten genau beobachten, um abschätzen zu können, wann die Zentralbanken ihr Füllhorn tatsächlich verschwinden lassen. In unserem zentralen Szenario rechnen wir damit, dass dies in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres geschehen wird, nicht jetzt – trotzdem bleiben wir lieber wachsam.

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21.03.2023 15:50:29

 
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